Herr Üblacker, als Stadtsoziologe interessieren Sie sich vor allem für Quartiere. Was ist an diesem Forschungsfeld so interessant?
In der Stadtsoziologie sind Quartiere und Nachbarschaften grundsätzlich relevant. Wie, wo und mit wem man wohnt und welche sozialen, ökonomischen und kulturellen Faktoren diese Entscheidung beeinflussen – das sind Fragen, die die soziologische Stadtforschung seit jeher beschäftigen. Es gibt mehrere interessante Forschungsfelder. So z.B. die Frage, wie sich Menschen in der Nachbarschaft wechselseitig wahrnehmen und wie Bekanntschaften entstehen. Unter welchen Bedingungen wird aus einem bloß geteilten Wohnort, dem Quartier, eine „lebendige“ Nachbarschaft? Quartiere und Nachbarschaften sind in hohem Maße relevant für soziale Integration und Teilhabe: Hier finden alltägliche Interaktionen statt, soziale Netzwerke entstehen und wechselseitige Hilfe wird geleistet. Das hat sich gerade in der Phase der Corona-bedingten Kontaktbeschränkung verstärkt gezeigt.
Dann können Quartiere als eine Einflussgröße begriffen werden?
Sie bilden einen Bezugsrahmen, der Einstellungen und Handlungen der BewohnerInnen bedingt. Wenn die Bewohnerschaft eine sehr heterogene soziale Mischung zeigt, also sowohl besser als auch schlechter Gebildete, Gutsituierte als auch solche mit niedrigem Einkommen zusammenleben, und diese Menschen miteinander interagieren, kann das u.U. soziale Mobilität bewirken. Das geschieht zum Beispiel dann, wenn ein Arbeitsloser durch die direkte Hilfe oder einen Tipp aus der Nachbarschaft zu einem neuen Job kommt.
Welche unterschiedlichen Aspekte sind bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Quartieren zu berücksichtigen?
Über die Sozialstruktur haben wir bereits gesprochen. Es müssen aber auch infrastrukturelle und gewerbliche Aspekte betrachtet werden: Geschäfte, Parks, Plätze, Schulen, Nachbarschaftsinitiativen, Vereine. Also Orte, die Begegnungen ermöglichen und soziale Netzwerke fördern. Nicht zuletzt geht es auch um die Art und Weise, wie über eine Nachbarschaft gesprochen wird, z.B. unter den Bewohnerinnen und Bewohnern oder in den lokalen und sozialen Medien. Die verschiedenen Formen der raumbezogenen Kommunikation bringen ein Image hervor, welches das Quartier u.U. über seine lokalen Grenzen hinaus bekannt macht. Diese Bilder sind nur sehr schwer zu kontrollieren und können sich benachteiligend auf die Bewohnerinnen und Bewohner auswirken, wenn man z.B. an sogenannte „soziale Brennpunkte“ denkt.
Das Image als weicher Faktor ist nicht von stein- bzw. betonharten Fakten zu trennen, oder?
Wenn Sie auf den Beitrag der Wohnungswirtschaft anspielen wollen, dann stimmt das natürlich. Die Handlungsstrategien der Bestandshalterinnen und Bestandshalter in den Quartieren tragen wesentlich dazu bei, wie sich diese entwickelt. Bröckelnde Fassaden, ungepflegte Grünflächen oder verschmutzte Spielplätze können ein negatives Image noch weiter verstärken. Die Höhe der Mieten sowie bewusste oder unbewusste Diskriminierung bei der Wohnungsvergabe entscheiden mit darüber, welche Haushalte in welche Quartiere ziehen können und beeinflussen auf diese Weise auch das Ausmaß der ethnischen und sozialen Segregation in der Stadt.
Wenn Wohnungsunternehmen eine soziale Verantwortung haben: Wo liegen ihre Gestaltungsspielräume in Quartieren?
Ich denke, Wohnungsunternehmen haben eine soziale Verantwortung. Die Frage ist vielmehr, ob und wie sie diese wahrnehmen und damit umgehen. Viele deutsche Wohnungsunternehmen verfügen über räumlich konzentrierte Wohnungsbestände, die einen Quartierszusammenhang abbilden. Wie gesagt: Durch Bewirtschaftungs- und Investitionstätigkeiten, Belegungspraxis, Mietpreisgestaltung, Bestandsentwicklung und Neubau beeinflusst die Wohnungswirtschaft die Entwicklung von Quartieren z. T. in erheblichem Maße. Welche Faktoren die vielfältigen wohnungswirtschaftlichen Akteurinnen und Akteure dabei leiten und wie sich diese Vorgänge auf die Bewohnerschaft, den nachbarschaftlichen Zusammenhalt und die Stadtgesellschaft auswirken, sind spannende Fragen, die es auf Basis empirischer Forschungen zu klären gilt. Ich denke, dass sich ein soziologischer Blick auf die Akteurinnen und Akteure der Wohnungswirtschaft lohnt, weil er den Fokus noch einmal ganz anders legt. Diesen Blickwinkel würde ich gerne stärker in den Diskurs einzubringen.
Welche Erkenntnisse ermöglicht dieser Blick?
Die zentrale Motivation meiner Forschungsarbeit ist es, herauszufinden, warum sich Quartiere und Nachbarschaften verändern und welche Folgen das für die Bewohnerschaft, für die Quartiere und auch für die Stadt selbst hat. Letztlich geht es wissenschaftlich darum, nach Ursachen zu forschen, den Wandel angemessen zu beschreiben und dessen Wirkungen mithilfe empirischer Studien aufzuzeigen. Die Veränderungen – das ist meine soziologische Perspektive – sind immer als Wechselspiel zwischen Individuum und seinem sozialen und räumlichen Kontext zu begreifen. Dieser kann das Haus, die nähere Wohnumgebung, das Quartier oder die gesamte Stadt sein. So gibt es auf städtischer Ebene bestimmte Entwicklungen, die das individuelle Handeln bedingen: Denken Sie an eine Stadt mit einem stark angespannten Wohnungsmarkt mit immer weiter steigenden Angebotsmieten, dann haben Sie in ihrer Wohnstandortwahl nur bestimmte Wahlmöglichkeiten. Ihre Handlungen sind, was die Wohnstandortwahl angeht, von vornherein eingeschränkt, wenn sie in der Stadt bleiben möchten.
Sie haben sich intensiv mit dem Thema Gentrifizierung befasst, gegenwärtig ein brisantes Thema.
In der deutschen Forschung ist Gentrifizierung seit den späten 80er Jahren ein Thema. In den öffentlichen und politischen Debatten hat der Begriff insbesondere mit der Renaissance der Städte und den aufkommenden Debatten um die Bezahlbarkeit des Wohnens einen immensen Popularitätsschub erfahren. Mein Eindruck ist, dass er nicht mehr nur dazu dient, den eigentlichen Prozess des Austauschs einer statusniedrigeren durch eine statushöhere Bewohnerschaft innerhalb eines Wohngebiets zu beschreiben, sondern zu einer Art Symbolbegriff avanciert ist, mit dem alle möglichen ungeliebten Veränderungen in den Städten und Quartieren bezeichnet werden. Aus wissenschaftlicher Sicht ist das Themenfeld interessant, weil es zahlreiche Anknüpfungspunkte zu weiteren Themen bietet: Segregation, sozialer Zusammenhalt, Wohnungsmärkte, Wohnungspolitik, Konsumtrends, soziale Ungleichheit, Kriminalität oder Tourismus sind nur einige davon.
Ist für den Stadtsoziologen eigentlich auch das Thema Digitalisierung interessant?
Digitale Nachbarschaftsplattformen, Nachbarschaftsgruppen in den sozialen Medien und in Messanger-Diensten bieten neue Möglichkeiten lokale Kontakte zu knüpfen. Allerdings werden diese Angebote nicht von allen Menschen gleichermaßen genutzt und wahrscheinlich auch nicht auf gleiche Art und Weise. Entsprechend ist davon auszugehen, dass die mit der Nutzung verbundenen Ressourcen ebenfalls ungleich verteilt sind. Eine Frage, der wir derzeit nachgehen, ist z.B., ob die Nutzung allein auf Basis individueller Präferenzen erfolgt oder ob es auch einen Nachbarschaftseffekt gibt, der die Nutzung zusätzlich begünstigt. Darüber hinaus kam es auch im Zuge der Corona-bedingten Kontaktbeschränkungen zu einer verstärkten Nutzung solcher Angebote. Allerdings ist auch hier nicht klar, in welchen Quartieren die Nutzung wie stark zugenommen hat.
Ihre neuen Studierenden kommen alle aus dem Bereich der Wohnungs- und Immobilienwirtschaft. Was möchten Sie ihnen mitgeben?
Die Studierenden lernen bei mir die Grundlagen des wissenschaftlichen Arbeitens, den Umgang mit den Theorien und den Methoden der empirischen Sozialforschung. Dabei geht es mir vor allem um die Stärkung ihrer analytischen Fähigkeiten. Inhaltlich werden vor allem Aspekte rund um Stadtentwicklung, Quartiere und Nachbarschaft im Mittelpunkt stehen. Eben die Themen, die wir auch in diesem Interview angeschnitten haben. Das Ganze soll aber keineswegs allzu einseitig ablaufen. Viele der Studierenden haben bereits Berufserfahrung, kennen also verschiedene Teilbereiche der Immobilienwirtschaft viel besser als ich. Dementsprechend hoffe ich auf einen produktiven Austausch, der mir Einblicke in ihre berufliche Praxis gibt und mir erlaubt, die Vermittlung der Inhalte auf die Interessanlagen und Bedürfnisse abzustimmen.